Sally Wiests „Rundgemälde der Stadt Stuttgart“ – neue Erkenntnisse zu einer ungewöhnlichen Stadtansicht
Sally Wiest (1866-1952) war eine Landschaftsmalerin, die vor allem in Stuttgart lebte und arbeitete. Sie gehörte im Jahr 1893 zu den Gründerinnen des Württembergischen Malerinnen-Vereins.
1935 kaufte das Stadtarchiv ein „sechsteiliges Rundgemälde der Stadt Stuttgart“ an, das aus der Perspektive des Gebäudes Urbanstraße 36 einen Rundumblick über Stuttgart bietet. Die Perspektive ist ungewöhnlich: Hier wird nicht zentral die Innenstadt von oben gesehen porträtiert, sondern alles, was von der Urbanstraße aus zu sehen ist, Dächer, Hinterhöfe etc. Wie für die Malerin üblich stellte sie die Situation wolkenverhangen und nicht bei blauem Himmel dar. Ihre Stadtlandschaft fertigte sie in einem für Künstlerinnen in Württemberg damals ungewöhnlich großen Format an.
Die Gemälde wurden „um 1897“ geschaffen. Die Künstlerin wohnte damals in der Urbanstraße 36 im obersten, vierten Stockwerk, ebenso wie Ihre Schwester Marie (Stuttgarter Adressbuch 1897, S. 387). So ist es sehr wahrscheinlich, dass sie von der Dachterrasse aus diesen Blick einfing.
Der Weg ins Stadtarchiv
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden vier der sechs Gemälde als „unbeschädigt“ bezeichnet, eines war teilweise beschädigt und eines wurde als „nicht vorhanden“ katalogisiert. So existieren heute nur noch vier Querformate und ein Hochformat, das die gleiche Höhe hat wie die anderen Bilder, aber viel schmäler ist. Dieses neu gerahmte Hochformat ist vermutlich die linke Hälfte des damals beschädigten Bildes. 1971 wurde eines der Bilder gerahmt, gereinigt und neu gefirnisst. 1981 wurden drei Werke restauriert und gerahmt. Wann das fünfte, „halbe“ Bild in seinen jetzigen Zustand gebracht wurde, ist bisher unklar. Angekauft wurden 1935 direkt von der Künstlerin für das Stadtarchiv jedenfalls sechs gleich große Bilder ohne Rahmen für insgesamt 900.- Reichsmark, die unter einer gemeinsamen Inventarnummer ins Zugangsbuch aufgenommen wurden. Sie sind unten links jeweils mit „S. Wiest“ signiert.
Bisher unbekannt war, dass im April 1898 im Landesgewerbemuseum (heute Haus der Wirtschaft) in der König-Karl-Halle eine Ausstellung von Sally Wiest zu sehen war, in der nur ein Werk, nämlich ein „Rundgemälde“ von Stuttgart in genau der gleichen Perspektive gezeigt wurde. Die Zeitgenossen fanden die besondere Perspektive vom Dach der Urbanstraße 36 aus erwähnenswert, denn sonst wurde Stuttgart ja üblicherweise meist von einem Blick von den Anhöhen rings um die Stadt hinunter in den Kessel gezeigt.
Spurensuche in der Presse
Das Neue Tagblatt beschreibt das Gemälde so: Es „giebt dem Beschauer das Charakteristische der Lage Stuttgarts, wie sie sich rings um ihn aufbaut und zeigt ihm die Altstadt mit dem ehrwürdigen alten Schlosse, die K. Anlagen in herbstlichem Grün, die an den Bergen emporkletternden Straßen, Häusergruppen, Villen und die Aussichtstürme“.
Der Schwäbische Merkur lobte das Gemälde in der König-Karl-Halle: „Der Künstlerin, welche mit besonderem Verständnis uns seither in die Zauber der Waldestiefe, in die Verknüpfung der Reize von Wiesengrund und blinkendem Wasserspiegel eingeführt hat, werden es weite Kreise Dank wissen, die landschaftlichen Schönheiten unserer Stadt unter Wahrung der karakteristischen Formen vor sich ausgebreitet zu sehen. Das interessante Bild dürfte wohl um so leichter einen Liebhaber finden, als dasselbe sich ganz besonders zur Vervielfältigung eignet.“
Es könnte sich bei dem in der König-Karls-Halle im Landesgewerbemuseum 1898 ausgestellten „Rundgemälde“ also tatsächlich um jenes handeln, das 1935 vom Stadtarchiv aus dem Besitz der Künstlerin erworben wurde. Nur fehlt heute leider der Teil, der Altstadt und Altes Schloss zeigt – also die Ansicht, die als Darstellung der Innenstadt vermutlich als eigenständiges Einzelbild am besten funktioniert. Leider kennen wir weder Abbildungen des im Stadtarchiv fehlenden Stücks, noch Abbildungen oder Größe des in der König-Karl-Halle ausgestellten Gemäldes. Panoramaansichten waren Ende des 19. Jahrhunderts sehr beliebt. Ab 1890 gab es in Stuttgart sogar ein eigenes Panoramagebäude für weit überlebensgroße Rundgemälde.
Vielleicht lässt sich in der Zukunft noch mehr über die genannte Ausstellung von 1898 herausfinden und möglicherweise sogar über den Verbleib des heute fehlenden sechsten Gemäldes?
—
Gemälde unterwegs
Die Gemälde sind derzeit ausgestellt auf Schloss Achberg, Ausstellung „Schwäbische Impressionistinnen“ (13. April bis 13. Oktober 2024).
Ab 26. Oktober 2024 sind die Werke in der Ausstellung ” ‘Nicht Ausdruck, sondern Eindruck malen’ Schwäbische Impressionistinnen” in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen zu sehen.
—
Quellen:
Zu den 5 Gemälden auf Museum Digital – Baden Württemberg: https://bawue.museum-digital.de/series/739
“Rundgemälde von Stuttgart”, in: Schwäbischer Merkur, Nr. 97 vom Donnerstag, 28. April 1898.
Wolfgang Mährle, Panoramagebäude, publiziert am 20.05.2021 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/1047a37f-0056-4e2a-9b1f-27ad2597c9f6/Panoramagebaeude.html
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Barbara Six (27. September 2024). Sally Wiests „Rundgemälde der Stadt Stuttgart“ – neue Erkenntnisse zu einer ungewöhnlichen Stadtansicht. Archiv0711. Abgerufen am 6. Oktober 2024 von https://doi.org/10.58079/12dbv
